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Vom Mythos zur Mythologie: Fiktionen, Narrative & Framing

Höhle von Lascaux - Räume kreativ gestalten

Der Mythos ist die Grundlage für alles, was wir Menschen tun, das über den bloßen Selbsterhalt hinausgeht. Denn er bestätigt unsere Identität und unseren Platz in der Welt. In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, wie Geschichten zentral unseren Alltag bestimmen und wie wir mit dieser Tatsache möglichst gewinnbringend umgehen können. Dafür schlage ich einmal den ganz, ganz großen Bogen…

Der erste Mythos: Ursprung des Verstandes

Insgesamt haben nach Schätzungen bisher 108 Milliarden Menschen auf der Erde gelebt [Quelle: Spektrum]. Seit unseren Anfängen hat sich vieles verändert, aber eines ist immer gleich geblieben: Wir Menschen lieben Geschichten, denn sie helfen uns, die Welt zu verstehen und in ihr zu navigieren.

Irgendwann in unserer Evolution gab es einen Punkt des Erwachens, in der sich unser Verstand gebildet hat, der uns die Fähigkeit gibt, abstrakt zu denken und komplexe Probleme zu lösen. Er ist unser wichtigstes Werkzeug, wenn wir ihn bewusst einsetzen. Die Entwicklung des Verstandes hat die Menschheit wiederum in Geschichten verarbeitet. Auf einer Meta-Ebene, sozusagen. Nach der biblischen Erzählung im 1. Buch Mose, essen Adam und Eva zum Beispiel vom Baum der Erkenntnis, stellen fest, dass sie nackt sind, und werden daraufhin aus dem Paradies verstoßen.

Michelangelo: Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies (Sixtinische Kapelle, um 1512)
Michelangelo: Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies (Sixtinische Kapelle, um 1512)

Wie in der Geschichte allegorisch dargelegt hat das Denken für uns Vor- und Nachteile. Der große Vorteil war, dass sich die Menschheit über den ganzen Erdball ausbreiten konnte, weil die Menschen sich in viel größeren Gruppen verständigen konnten als zuvor. Der Nachteil war, dass der Verstand sehr selbst-referenziell ist und dass wir geradezu süchtig nach passivem Denken sind, was für viele Menschen großes Leid bedeutet.

Wirklichkeitskonstruktion: Jede Geschichte ist eine Verfälschung der Realität

„Sie dürfen nicht alles glauben was sie denken“

– Heinz Erhardt

Wir reden nicht ohne Grund vom Mythos, wenn wir etwas meinen, das nicht ganz richtig ist. Vom Prinzip her ist alles, was wir kommunizieren, eine Verfälschung, denn jede Verarbeitung zu einer Geschichte lässt etwas entstehen, was von der Realität abweicht.

Entstehung eines Mythos: Vom Fakt zur Fiktion
Entstehung eines Mythos: Vom Fakt zur Fiktion. Quelle: unbekannt

Das hat erneut seine Vor- und Nachteile. Nehmen wir ein Beispiel des Historikers Harari, das der Automarke „BMW“: In der Realität gibt es nur die Autos. Oder es gibt eine Halle, in der diese Autos montiert werden. BMW an sich ist aber eine abstrakte Idee, die so gar nicht existiert. Wir als Menschheit haben uns nur darauf geeinigt, dass wir gemeinsam an solche Dinge glauben wollen. Genau aus diesem Grund ist es beispielsweise für unser Leben gar nicht ausschlaggebend, ob es zum Beispiel einen Gott gibt oder nicht, sondern nur, ob und wie viele Menschen an diesen Gott glauben. Denn der Glaube allein versetzt schon Berge…

Mythologie & Philosophie: Kampf um die Deutungshoheit

„Es gibt keine neuen Grundlagen. Wir müssen ein wenig bezweifeln, wenn jemand sagt: ‚Ich habe eine neue Grundlage entdeckt‘. Das ist so, als würde dir jemand eine Tour einer Fabrik geben, in der sie Antiquitäten herstellen“

– Jim Rohn

Mythologie ist der gemeinsame Code einer Kultur, also die Sammlung aller ihrer Erzählungen. Eine bestimmte Form der Erzählung ist das so genannte Narrativ. Damit meint man vorwiegend ein wiederkehrendes politisches Erzählmuster.

Storys: Die Haltung ist das Ausschlaggebende
Storys: Die Haltung ist das Ausschlaggebende

Aus Fiktionen heraus entstehen immer wieder Narrative und umgekehrt. Wenn wir über Narrative sprechen, müssen wir uns aber erst einmal den politischen Mainstream anschauen. Also die Hauptströmungen an Ideen, an Vorstellungen und an Geschichten, die so kursieren.

„Diejenigen, die die Geschichten erzählen, beherrschen die Gesellschaft.“

– Platon

Der Mainstream ist gleichzeitig sinnstiftend und gefährlich. Sinnstiftend ist er, weil er wie der Kitt unserer Gesellschaft funktioniert und uns hilft, uns gemeinsam zu orientieren. Wenn allerdings durch Trendthemen bestimmte Narrative in den Fokus rücken, die, vor allem durch emotionale Trigger ausgelöst, stark moralisierend und noch dazu nicht ausdifferenziert sind, dann können diese Narrative die Gesellschaft spalten. In solchen Fällen handelt es sich meistens um politische Machtspiele. Eine Gruppe möchte die Mehrheit von ihren Ideen überzeugen, davon welche Werte wichtig sind und worum man sich dringend kümmern sollte.

Eliten in Deutschland & Frankreich

Der größte Streit um die Deutungshoheit scheint sich nach wie vor zwischen der breiten Masse, den Eliten und den Populisten abzuspielen. Das elitäre Denken geht dabei auf auf den antiken griechischen Philosophen Platon zurück, der damit das Akademikertum begründet hat. Grob gesagt glauben Elitaristen daran, dass die breite Masse von einer Elite angeführt werden muss und, selbstverständlich, dass sie selbst dieser Elite angehören. Die Populisten dagegen glauben, dass sie die breite Masse bereits anführen, indem sie ihr nach dem Mund reden.

Narrative im Film und Dokumentarfilm

„Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist.“

– Ferdinand Lassalle

Der Mainstream-Film gehört im Wesentlichen zur Popkultur. In der Popkultur ist es ein Problem, wenn politisch motivierte Themen ihren Weg in fiktionale Werke finden und wie Fremdkörper von außen übergestülpt werden, weil darunter nicht nur die Qualität für das Publikum leidet, sondern ebenfalls die eigene Botschaft untergraben wird. Hier zeigt sich ganz offen, welche Vorstellungen gezeigt werden können und welche nicht und auf einer Meta-Ebene versteht das Publikum langsam, mit jedem Film, worum es den Entscheidern in den Machtpositionen wirklich geht.

Noch schwieriger wird diese politische Dimension im Dokumentarfilm. Wenn der Leitspruch „Zeigen, was ist“ zitiert wird, frei nach Ferdinand Lassalle, dann zeigt sich, dass die Macher der Ansicht sind, sie würden die Realität abbilden. Für mich persönlich offenbaren sie dadurch ein problematisches Medienverständnis. Denn es sollte nicht darum gehen, etwas aus einem elitären Verständnis heraus scheinbar Relevantes abzubilden, sondern etwas für die Künstler persönlich Sinnvolles zu zeigen.

Randströmungen: Verschwörungsmythen, Gegenspekulations-Theorien & Co.

„Das ist keine Verschwörungstheorie, das ist Verschwörungspraxis“

– Neues aus der Anstalt

Verschwörungstheorien sind Geschichten, die versuchen, einen bestimmten Zustand durch eine zielgerichtete Verschwörung zu erklären. Grundsätzlich ist es so, dass es in der Geschichte immer wieder Verschwörungen gab und dass an bestimmten Spekulationen manchmal auch etwas dran ist. Verschwörungsmythen sind aber vor allem dann ein Problem, wenn kausale Zusammenhänge hergestellt werden, wo es keine gibt oder sogar keine geben kann. Es ist sehr oft so, dass sich Menschen aus bestimmten Gründen ähnlich verhalten, ohne sich untereinander abzustimmen. Daraus kann man keine Kausalität ableiten. Trotzdem sind Gegenspekulationen wichtig, um immer wieder den Mainstream herauszufordern und zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.

Das Problem mit Verschwörungsmythen
Das Problem mit Verschwörungsmythen. Quelle: unbekannt

Zum Beispiel, wenn die Mehrheit der Medien auf eine bestimmte Art und Weise berichtet, dann heißt das noch lange nicht, dass dahinter ein bewusstes System steht, mit untereinander verbundenen Spielern. Es kann auch eine bestimmte Denkweise geben, die mit der Zeit entsteht. Ironischerweise ist das oft genau der Mechanismus, durch den Teile einer Verschwörungstheorie aus einer Randströmung ihren Weg in den Mainstream finden.

Schutz vor Propaganda: Framing & De-Framing

Framing bezieht sich auf die bewusste Auswahl spezifischer Worte oder Bilder, um gleich am Anfang eines Beitrags die Wahrnehmung und Interpretation der Geschichte zu setzen. Das Framing dient dazu, eine bestimmte Botschaft zu verstärken oder die Meinung darüber in eine gewünschte Richtung zu lenken.

Politische Sprache

Um sich gegen manipulative Framing-Techniken zu schützen, ist es entscheidend, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln und kritisch zu hinterfragen, wie eine Geschichte präsentiert wird. Dies erfordert einen Blick über die Oberfläche hinaus und eine Analyse der zugrunde liegenden Motive und Interessen. Folgende Fragen können dabei helfen:

  • Wer erzählt mir hier etwas?
  • Was wird mir erzählt, aber was wird mir nicht erzählt?
  • Warum erzählt mir diese Person etwas?
  • Warum wird mir das gerade jetzt erzählt?
  • Was hat diese Person davon, dass ich ihr die Geschichte glaube?
  • Könnte es noch andere Perspektiven auf diese Sache geben?

Das De-Framing hingegen bezieht sich auf den Prozess, bestehende Framings und wiederkehrende Narrative zu entlarven und alternative Perspektiven einzunehmen, um eine umfassendere Sichtweise zu erlangen. Um effektiv gegen Propaganda vorzugehen, ist es wichtig, verschiedene Quellen zu prüfen, Informationen zu verifizieren und die Absichten hinter den präsentierten Geschichten zu erkennen.

Vom Denken: Der Unterschied zwischen Leben und Lebenssituation

Gleichzeitig hilft es, sich auf dieselbe Weise mal mit der eigenen Psyche zu beschäftigen und die eigene, innere Propaganda zu überprüfen. Die Selbstgespräche, die man den ganzen Tag so führt, offenbaren die falschen Glaubenssätze, die man sich über die Jahrzehnte angeeignet hat. Diese aufzulösen ist allerdings um ein Vielfaches schwieriger…

Fazit: Unsere Eigenverantwortung in der Welt

In einer stark vernetzten Welt, in der Informationen immer schneller verbreitet werden, müssen wir uns auch immer stärker gegen die Manipulation wappnen. Der Kampf um die Deutungshoheit wird sich weiter intensivieren, da unterschiedliche Gruppen alle Methoden einsetzen werden, um ihre eigenen Geschichten zu verbreiten und die öffentliche Meinung zu prägen.

Nur durch eine medienkritische Bildung wird es uns gelingen, dem Einhalt zu gebieten. Was wir aus meiner Sicht von jedem Einzelnen verstärkt brauchen, ist mehr Distanz und ein ständiger, begründeter Zweifel an den Erzählungen, mit denen wir uns tagtäglich beschäftigen, sowohl von innen als auch von außen. Mir hilft dabei vor allem die Entschleunigung, das regelmäßige Reflektieren und generell die bewusstere Auseinandersetzung mit den (sozialen) Medien.

Danke, dass ihr solange drangeblieben seid! Falls ihr euch mehr zu diesen Themen informieren möchtet, habe ich euch noch eine kleine Liste an Büchern angefügt.

Weiterführende Lektüre:

  • EIN UNIVERSUM AUS NICHTS von Lawrence Kraus
  • SAPIENS von Yuval Noah Harari
  • DIE KRAFT DER GEGENWART von Eckart Tolle
  • MYTHOS UND BEDEUTUNG von Claude Levi-Strauss
  • PSYCHOLOGIE DER MASSEN von Gustave Le Bon
  • MAINSTREAM: WIE FUNKTIONIERT, WAS ALLEN GEFÄLLT von Frederic Martel
  • DIE KUNST, RECHT ZU BEHALTEN von Arthur Schopenhauer

Wenn ihr mehr lesen möchtet, gibt es hier weitere Film-Themen:

  1. Der Mainstream