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Ergocinema / Film / Diversity

Warum Diversity nicht ausreicht

Wer sich mit Kunst und Kultur auseinandersetzt, der kommt heutzutage um das Phänomen Diversity nicht herum. Verleihfirmen, TV-Sender und Streamer überbieten sich gegenseitig in ihren Diversity-Versuchen. Jeder möchte scheinbar mitmachen. Die Medienwelt wird bunter, so heißt es. Aber was bedeutet Diversity genau? Und wie viel Aufwand und Engagement steckt hinter diesen Versuchen, die Gesellschaft voran zu bringen?

Definition Diversity

Diversity oder Diversität ist eine politische Idee. Der Begriff Diversity kommt aus dem Englischen und bedeutet direkt übersetzt einfach nur „Vielfalt“. Unter Diversity versteht man den bewussten Umgang mit Vielfalt in der Gesellschaft, vor allem in Bezug auf diese sieben Dimensionen der Benachteiligung:

  1. Ethnie
  2. Geschlecht
  3. Sexualität
  4. Gesellschaftsschicht
  5. Fähigkeiten
  6. Alter
  7. Weltanschauung

Ziele von Diversity sind der Abbau von Diskriminierung, Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe und die Förderung der Chancengleichheit – über all diese Dimensionen hinweg. Im Zusammenhang mit Diversity spricht man deshalb auch von Inclusion und Equity (Einbindung und Gleichstellung). Historisch gesehen, hat sich die Idee aus der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und aus der modernen Frauenrechtsbewegung entwickelt.

Herangehensweisen an Diversity

Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, wir sehen die Dinge wie wir sind.

– Anaïs Nin

In Filmen und Serien wird Diversity auf ganz vielfältige Art und Weise ausgedrückt – das entspricht auch genau ihrem Wesen. Manche Erzählformen eignen sich von Natur aus für dieses Prinzip, bei anderen erfordert es mehr Vorstellungskraft. Im Folgenden möchte ich auf einige gelungene Beispiele verweisen, aber auch auf weniger gelungene, um die Hürden dieser gesellschaftspolitischen Aufgabe zu verdeutlichen.

Das diverse Weltepos

Ein Weltepos erzählt eine epische Geschichte, die die ganze Welt betrifft. Im Fall von Diversity treten hier insbesondere das Science-Fiction-Epos, das Action-Epos und das Fantasy-Epos auf. Kennzeichen sind eine breite Figurenaufstellung durch ein Ensemble, das metaphorisch die ganze Menschheitsfamilie repräsentiert.

Das Science-Fiction-Epos

Pionier auf diesem Gebiet war und ist mit Sicherheit STAR TREK: In einer fernen Zukunft hat die Menschheit ihre großen Differenzen beigelegt. Es gibt keine Kriege mehr, keine Armut, und die Menschen erforschen gemeinsam mit Aliens den Weltraum. Das Franchise war von Beginn an progressiv gedacht und spielte mit Ideen, die zum Nachdenken anregen. Diversity ist im Science-Fiction-Epos dank Star Trek mittlerweile absoluter Alltag und vorausgesetzt.

Das Action-Epos

Wenn es um Action-Epen geht, sprechen wir hauptsächlich von Superhelden-Teams, die gemeinsam die Welt vor dem Bösen retten. Die Marvel-Superheldenfilme fingen klein an, bis sich in AVENGERS: INFINITY WAR die größte Superheldentruppe der Filmgeschichte zusammenfand, um den fanatischen Zerstörer Thanos zu besiegen. Diversity ist in Action-Epen durch die erhöhte Mobilität der Figuren und die Bedrohung der ganzen Welt begründet und entspricht auch hier den Sehgewohnheiten des Publikums.

Das Fantasy-Epos

Im Gegensatz dazu steht das Fantasy-Epos. Es ist vermutlich das Genre, das sich bisher am Schwersten tut, Diversity abzubilden. Eine großartige Technik ist es hier, einen einzigartigen Aufhänger dafür zu schaffen, dass eine diverse Gruppe zusammenfindet. Das Paradebeispiel ist das plötzliche Machtvakuum in GAME OF THRONES, das den Anspruch auf den Thron aus allen Ecken der Welt von Westeros hervorruft. Letzten Endes ist die Fantasie gefragt, eine neue Welt mit vielfältigen Figuren sinnvoll zu besetzen.

Diversity in anderen Erzählformen

Vielfalt, die sich nicht zur Einheit ordnet, ist Verwirrung. Einheit, die sich nicht in Vielfalt gliedert, ist Tyrannei.

– Blaise Pascal

Nicht jede Geschichte muss ein Weltepos sein. Der Diversity-Gedanke kann auch auf andere Weise transportiert werden. Zum Beispiel, wenn es um die Sichtbarmachung interkultureller Konflike oder einzelner gesellschaftlicher Gruppen geht. Diese Ansätze sind besonders wichtig, denn nicht jede Geschichte sollte nach demselben Schema erzählt werden, da sonst die Vielfalt wieder auf der Strecke bleibt (Stichwort: Diversity-Paradoxon). Es ist also klar, dass für Diversity der Blick auf das große Ganze zählt.

Als weiteren Diversity-Ansatz gibt es deshalb den Culture Clash (Kulturschock), der in der Regel als „Fisch aus dem Wasser“-Geschichte daherkommt. Die Hauptfigur dringt in eine ihr unbekannte Welt vor (BEVERLY HILLS COP, WILLKOMMEN BEI DEN SCH’TIS, CROCODILE DUNDEE). Der Kulturschock kann aber auch als Buddy-Komödie erzählt werden, in der zwei verschiedene Welten aufeinanderprallen (LETHAL WEAPON, RUSH HOUR, INTOUCHABLES).

Auf der anderen Seite gibt es die klassischen Milieu-Studien wie PRECIOUS, WOLKE9 oder JOKER, die sich einer konkreten Subkultur widmen und in der Regel eher dramatischer Natur sind. Oft wird allerdings auch hier mittlerweile versucht, mehr zusätzliche Diversität über eine diversere Aufstellung der Figuren unterzubringen, was uns direkt zu den Herausforderungen dieser Bewegung bringt.

Herausforderungen für Diversity

Wer sich mit Diversität beschäftigt, der wird auf einige Herausforderungen stoßen, die meines Erachtens nach aus einem zu schematischen Umgang mit der Vielfaltsidee resultieren. Auf ein paar möchte ich dabei besonders eingehen:

  • Ensemble-Zwang
  • Franchise-Hijacking
  • Geschichtsrevisionismus
  • Humor & Minderheiten

Ensemble-Zwang

Die aus meiner Sicht größte Herausforderung ist, dass versucht wird, jede Geschichte zu einem Weltepos zu machen. Wir sehen das am Beispiel der Avengers-Auskopplung BLACK WIDOW: Der erste weibliche Marvel-Superheld (wenn man an ihren Auftritt in IRON MAN 2 denkt) ließ als Spin-Off viele Jahre auf sich warten. Anstelle eines Agenten-Thrillers im Sinne einer LA FEMME NIKITA, der Natasha Romanoffs Figurenentwicklung gerechtfertigt hätte, wird uns allerdings ein Action-Spektakel mit einem Figurenensemble wie bei den Avengers vorgesetzt. Alles wirkt eine Spur zu groß für diese Figur. Dieses Vorgehen führt zu Filmen nach Schema F, da nicht genügend Raum für vielfältige Konstellationen gelassen wird.

Franchise-Hijacking

Bei beliebten Franchises ist die Versuchung groß, bekannte Charaktere im Sinne der Diversity einfach neu zu besetzen. Das schwierige Wort an dieser stelle ist „einfach“. Wir erinnern uns an die vehementen Diskussionen um die Zukunft von James Bond. Das Publikum tut sich schwer damit, einen Wandel mitzugehen, wenn er lieblos umgesetzt wird. Aus meiner Sicht fehlt hier der Mut, neue Charaktere zu schaffen und das Publikum für sich zu gewinnen. Was hätte zum Beispiel dagegen gesprochen, in JAMES BOND: SPECTRE einen Cameo-Auftritt von Idris Elba als 008 unterzubringen, um anschließend eine Filmreihe mit ihm auszukoppeln? Ein positives Beispiel ist hier definitiv SPIDER-MAN: INTO THE SPIDER-VERSE um die neue Spider-Man-Figur Miles Morales.

Geschichtsrevisionismus

Ein in der Öffentlichkeit umstrittenes Beispiel für Diversity sind experimentelle Versuche, welche die Sehgewohnheiten des Publikums herausfordern. In der historischen Serie BRIDGERTON wurde die Königin sowie eine Reihe weiterer adliger Figuren mit schwarzen Darstellern besetzt, während die Serie das Thema Rassismus konsequent ignoriert. Dazu gibt es verschiedene Meinungen. Manche sagen, das sei Geschichtsrevisionismus. Persönlich sehe ich das nicht so. Dieses Experiment finde ich großartig, weil es die Diskussion um die Medienkompetenz der Zuschauer eröffnet. Filme bilden nicht die Realität ab, sie spielen mit der Realität und wir sollten das, was wir uns da anschauen auch reflektieren. Wir dürfen nicht vergessen: historische Fiction ist immer noch Fiction.

Humor & Minderheiten

Komödien sind ein Sonderfall, wenn es um Diversity geht. Für gewöhnlich ist es die Aufgabe, über alle Dimensionen der Vielfalt hinweg keine Stereotype zu befeuern. Die Komödie dagegen spielt genau mit diesen Stereotypen. Je nachdem mit welchem Genre ihr die Komödie kombiniert, entsteht dabei eine ganz andere Form. Deswegen ist es auch so schwer, bei Komödien mit Beispielen zu arbeiten. Nur so viel: Nicht jeder Witz, der gemacht wird, muss jedem gefallen, und ja, Humor kann verletzen, aber mit dieser Gefahr, dass Witze polarisieren, sollte unsere Gesellschaft insgesamt besser klarkommen. Auf der einen Seite ist erneut die Medienkompetenz des Publikums gefragt, aber auf der anderen Seite gilt ebenso: Bessere Recherche führt zu höherer Qualität, auch bei Komödien. Diversity als Prinzip ernst zu nehmen, bedeutet daher immer, mehr in die Inhalte zu investieren.

Simple Lösungen für komplexe Probleme

An dieser Stelle möchte ich noch einmal festhalten, dass Diversity eine politische Idee ist und keine künstlerische. Das heißt nicht, dass Diversity nicht künstlerisch ausgedrückt werden kann, wie die Film- und Serienbeispiele ja deutlich zeigen. Aber es heißt, dass Diversity für sich allein stehend eine reine, oberflächliche Symbolpolitik ist. Wir brauchen gute Geschichten und gute Geschichten müssen entwickelt werden. Der Rechercheaufwand und der Dialog mit den Betroffenen regelt sich nicht von selbst. Ja, das macht die Produkte teurer, aber am Ende auch besser.

Diversity sollte ein konstanter Prozess sein und nicht das bloße schielen auf Resultate. Autoren schreiben zwar die Drehbücher, aber da die meisten Drehbücher Auftragsarbeiten sind, sollte jedem klar sein, dass es hier darum geht, dass die Unternehmen ihre Corporate Responsibility (Unternehmensverantwortung) wahrnehmen und nicht darum, die Verantwortung auf die unterste Ebene der Nahrungskette abzuwälzen.

Wir sollten es nach Möglichkeit vermeiden, bei Kulturerzeugnissen Ideen von außen überzustülpen. Filme und Serien sollten möglichst organisch von innen heraus entwickelt werden. Anreize zu setzen, halte ich für das Richtige. Anstatt starre Richtlinien, Quotenregelungen und Checklisten vorzugeben, wäre es auf jeden Fall besser, für Autoren entsprechende Trainings und Förderprogramme aufzulegen und ihnen die Mittel für ausführlichere Recherchen bereitzustellen. Um das bewusste Diversity Management und um den geistigen Austausch sollte es sich drehen. Dass neue Autoren und Geschichten gefunden werden müssen, sollte ebenso selbstverständlich sein.

Fazit: Die Zukunft von Diversity

Ein Individuum hat nicht begonnen zu leben, bis es sich über die engen Grenzen seiner eigenen Sorgen hin zu den größeren Sorgen der Menschheit erhebt.

– Martin Luther King, Jr

Wer es bei Symbolen und Diversity-Klischees belässt, der zeigt, dass er nicht bereit ist, sich mit der Vielfalt und den vielfältigen Geschichten in unserer Mitte auseinanderzusetzen. Geschichten, die wir doch gemeinsam erzählen und miteinander teilen wollen.

Solange es Firmen und Behörden nicht tun, müssen wir die Dinge in die eigene Hand nehmen. Mit dem Ergocinema Drehbuchpreis habe ich eine persönliche Entscheidung getroffen, hier selbst tätig zu werden. Jeder kann an diesem Preis teilnehmen und es gibt keine Begrenzung hinsichtlich der Vielfältigkeitsdimensionen. Ich hoffe mit diesem Projekt auf viele Nachahmer, die sich für unsere gemeinsame Kultur über ihre Einzelinteressen hinweg einsetzen.

Weiterführende Links (extern):


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