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Toxischer Realismus: Eine Kritik

Toxischer Realismus

Nichts hat Film und Fernsehen so sehr im Würgegriff wie der Anspruch an eine »realistische Darstellung«. Wer vom Realismus spricht, möchte sich damit vom vermeintlich Niederen, dem »Unrealistischen« absetzen. Dabei definieren diese Personen ganz selten, was sie mit realistisch und unrealistisch überhaupt meinen. Wie bei allen großen Ideen, die sich gerne hinter verschiedenen »Ismen« verstecken, sollten wir hier genauer hinschauen. Nicht zuletzt, um unsere eigenen, verzerrten Vorstellungen der Realität zu reflektieren.

Ich mache gerne Filme, weil ich gerne in eine andere Welt eintauche. Ich verliere mich gerne in einer anderen Welt. Und Film ist für mich ein magisches Medium, das uns zum Träumen bringt … das uns ermöglicht, im Dunkeln zu träumen. Es ist einfach eine fantastische Sache, sich in der Welt des Films zu verlieren.

— David Lynch

Laut Definition ist eine Sache dann realistisch, wenn sie wirklichkeitsnah erscheint. Es geht also um den Schein der Sache, nicht um ihr Wesen. Jeder Künstler weiß, dass Kunst immer künstlich ist — das steckt schon in ihrem Namen. Bei dem viel propagierten Satz »Zeigen, was ist«, der vor allem im Zusammenhang mit Dokumentarfilmen immer wieder fällt, handelt es sich um einen verklärten Mythos: Film ist in Wahrheit ein Ausdrucksmedium für Künstler, um ihre Ideen zu transportieren. Filme können gar keine »Realität abbilden«, sie können nur den Eindruck erwecken, sie würden dies tun, aber das ist offensichtlich etwas ganz anderes.

Unrealistisch: das symbolische Ende in DER WALD VOR LAUTER BÄUMEN

Wenn man der Vorstellung der Realismus-Anhänger folgt, dann gilt, dass sich das Künstliche so nahe wie möglich am Natürlichen zu orientieren hat. Ja, sie fordern geradezu, dass alle Kunst immer dieser Maxime unterliegen sollte, wenn sie groß und gut sein möchte. Sie stellen damit den oberflächlichen Eindruck einer wie auch immer gearteten Realität über die inhaltliche Substanz der filmischen Erzählung.

Ein Spektrum an Realismen

Aus meiner Sicht ist diese Idee hochgradig toxisch. Alles, was den künstlerischen Ausdruck sowie die kulturelle Vielfalt von Außen limitiert, sollte grundsätzlich abgelehnt werden. Selbst wenn wir der Realismus-Forderung als Gedankenexperiment folgen würden, gäbe es zwischen realistisch und unrealistisch ein so breites Spektrum, dass es unmöglich ist, dieser Vorstellung überhaupt gerecht zu werden. Zum Beispiel: Ein feuerspeiender Drache ist mit Sicherheit unrealistischer als ein krankenpflegender Arzt. Trotzdem ist letzterer noch lange nicht realistisch.

Film ist Leben, wenn man die langweiligen Teile wegschneidet.

— Alfred Hitchcock

Was als realistisch betrachtet wird und was nicht, kommt stark auf Sehgewohnheiten und Lebenserfahrungen an. Zuschauer, die vermehrt mit Hollywood-Filmen groß wurden, akzeptieren andere Dinge, als Zuschauer, die ihr Filmwissen aus europäischem Arthouse-Kino ziehen. Arbeiten Zuschauer als Krankenpfleger, fällt es ihnen unter Umständen leichter den feuerspeienden Drachen zu akzeptieren als den pflegenden Arzt. Wenn die Wahrnehmung nun so individuell verschieden sein kann, woher stammt dann diese Idee, dass das Realistische dem Unrealistischen überlegen sei?

George R.R. Martin über realistische Drachen

Tradition vs Dekonstruktion

Vor den Filmgören, vor den Scorseses und den Spielbergs und den De Palmas, kamen die Regisseure Ende der 60er, Anfang der 70er aus einer Art Post-60er-Anti-Establishment-Mindset. Und man hat den Eindruck, dass sie »Genre« für ein Schimpfwort hielten. Sie wollten sich selbst als Künstler betrachten, die über dem Genre standen, und wenn sie es doch taten, war es immer eine Genre-Dekonstruktion. Das bin ich nicht.

— Quentin Tarantino

Wir alle kennen Filmklischees, die sich als Konventionen des Mediums entwickelt haben. Das fängt bei kleinen Dingen an, zum Beispiel, dass sich am Telefon niemand verabschiedet — um Zeit zu sparen und den Schnitt dramatischer zu machen. Aber auch größere Dinge werden einfach hingenommen, wie zum Beispiel eine Lehrerin, die sich eine riesige Wohnung in New York direkt am Central Park leisten kann. Das sorgt für schönere Bilder mit einer größeren Tiefe. Diese Konventionen bilden eine erzählerische Tradition, die unterbewusst selten in Frage gestellt wird.

Realismus hatte schon immer eine starke politische Dimension. Beim Realismus geht es um nichts Geringeres als um die Deutungshoheit darüber, was in unserer Gesellschaft als wichtig angesehen werden sollte. Als im 19. Jahrhundert Fotografie und Kinematografie aufkamen, wurden in der Kunst auf einmal Dinge möglich, die vorher undenkbar waren und es gab eine Abkehr von der Mythologie hin zu stark reduzierten, alltäglichen Szenerien. Das Realistische und seine Darstellung wurde zu einem Wert an sich erhoben. Im Wesentlichen stehen zwei Herangehensweisen an die Wirklichkeit in der Kunst zueinander im Widerspruch:

  1. Dekonstruktion: Progressiver Realismus
  2. Tradition: Konservativer Realismus

Bei der Dekonstruktion geht es darum, bekannte Kunsttraditionen und Erzählweisen aufzulösen. Der progressive Realismus möchte durch diese Auflösung der Wirklichkeit näher kommen und den Zuschauer wachrütteln. Beim Konservativen Realismus dagegen geht es darum, die Tradition zu wahren und die Wirklichkeitsempfindung beim Zuschauer nicht zu stören.

Realistische Bewertungsmaßstäbe

Schauen wir uns die Bewertungsmaßstäbe im Detail an. Wenn ein Film oder eine Serie als realistisch bezeichnet wird, geht es meistens um einen dieser drei Aspekte:

  1. Materialität: Die akkurate Darstellung der materiellen Realität
  2. Plausibilität: Die glaubwürdige Geschichte und Handlungsentwicklung
  3. Mentalität: Das authentische Weltbild

Materialität ist einfach: Wenn ein Historienfilm wie THE NORTHMAN als besonders realistisch gewürdigt wird, meint man damit akkurate Sets, Requisiten und Kostüme. Die anderen Aspekte werden dagegen selten thematisiert. Dazu ein Zitat der Historischen Experten von Kaptorga:

„Wenn wir diese Wikinger-Propaganda unkritisch übernehmen und weiterhin Filme von Gewalt, Mut, Heroismus und Rache spinnen, transportieren wir ein Menschenbild, das nur den toxischsten Gemütern realistisch oder — horrible Diktum gar — erstrebenswert erscheint“.

— Adam Nawrot (Kaptorga)

Bei der Plausibilität muss man zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit unterscheiden. Der Moment, in dem Neil Armstrong in FIRST MAN das Armband seiner Tochter in den Mondkrater schweben lässt, um sie endlich loszulassen, ist zwar nicht verbrieft, aber dennoch im Rahmen des Möglichen. Die Plausibilität, die Wahrhaftigkeit, scheint im Wesentlichen gewahrt, weil die zu erzählende Geschichte Sinn ergibt.

Das größte Streitthema dürfte die Mentalität eines Werkes sein. Sie ist eng mit der thematischen Strategie der Geschichte verwoben. In MAN OF STEEL wollte man die Fantasy-Figur Superman »realistischer« machen, indem man ihr einen Trauma-Plot auferlegt. Wie in einem düsteren und trostlosen Arthouse-Film. Eine pessimistische Weltsicht wird schließlich oft als realistischer empfunden als eine optimistische.

Aber macht das die Superman-Filme tatsächlich glaubhafter? Filme, in denen es um ein Alien von einem anderen Planeten geht? Einer, der durch die Luft fliegt, mit bloßen Händen ganze Häuserblocks zum Einsturz bringt und durch Wände sehen kann? Wieso sollte so eine Geschichte überhaupt einem realistischen Anspruch folgen müssen?

Die Herangehensweise von Zack Snyder zeigt eine ganz andere Mentalität als die von Richard Donner, der Superman 1978 in SUPERMAN: DER FILM zum Leben erweckte. Donner fokussierte sich voll und ganz auf Plausibilität. Er brachte den Optimismus und das Charisma der Figur auf die Leinwand. Der Film-Slogan lautete: »Sie werden glauben, dass ein Mensch fliegen kann«.

Eine unerhörte Überhöhung

Die metaphorische Überhöhung gilt manchmal auch als unrealistisch, aber sie macht oftmals einen großartigen Film aus. Wir finden sie selbst bei Werken, die für besonders realistisch gehalten werden. Nehmen wir BOHEMIAN RHAPSODY, der für seine realistische Rekonstruktion des Live Aid Konzerts gefeiert wurde. Wenn beim Schlussbild in Freddy Mercurys Augen das Publikum zu den Flammen der Leidenschaft seiner Musik werden — wer möchte solche Momente der Filmgeschichte missen?

Systematischer Zwang zum Realismus

Das traditionelle Erzählen steht für mich ganz klar im Mittelpunkt. Als Autoren benötigen wir einen vollen Werkzeugkasten, aus dem wir schöpfen können. Die Dekonstruktion lehne ich deshalb nicht ab, sie hat durchaus ihre Rolle. Aber sie ist nur ein Teil des Werkzeugkastens und meiner Wahrnehmung nach wird ihr viel zu viel Platz eingeräumt. Wenn es nur noch um die Form geht, dann werden die Inhalte zur Nebensache.

Ich glaube, es ist verlockend, wenn das einzige Werkzeug, das man hat, ein Hammer ist, alles so zu behandeln, als ob es ein Nagel wäre.

— Abraham Maslow

Mitte 2021 machten die Amazon Studios durch ihre neuen Diversity-Richtlinien auf sich aufmerksam. Ihre Idee ist es, ein Abbild der Realität vor und hinter der Kamera zu erschaffen. Schauspieler sollen beispielsweise nach Möglichkeit die Minderheitengruppen repräsentieren, die sie spielen. Dadurch gerät vollkommen in Vergessenheit, was der Beruf des Schauspielers überhaupt ist: so zu tun als ob. Die Künstlichkeit der Kunst soll in den Hintergrund treten und die Kunst sich einem Realismus-Anspruch unterordnen.

Es kommt nicht von ungefähr, dass große Systeme Realismus-Dogmen wie diese magisch anziehen. Durch die Schlichtheit dieser Weltanschauung werden viele Dinge endlich messbar und man kann sie besser kontrollieren. Allegorien, Metaphern und Symbole sind dagegen unvorhersehbar und potenziell gefährlich. Der Sozialistische Realismus in der Sowjetunion oder der Romantische Realismus zur Zeit des Nationalsozialismus sind extreme Beispiele, aber als Warnung stehen sie weithin für alle sichtbar im Raum.

Fazit: Realistisch oder unrealistisch

Kunst zieht uns nur dadurch an, was sie uns über unser geheimstes Ich offenbart.

— Jean-Luc Godard

Hoffentlich konnte ich mit diesem Artikel aufzeigen, dass es ganz viele verschiedene Realismen gibt. Ein Film oder eine Serie kann in einer Sache sehr realistisch sein, aber in einer anderen komplett unrealistisch. Wenn wir über Realismus sprechen, sollten wir also ganz genau definieren, was wir eigentlich meinen.

Gerade weil es Zuschauern immer schwerer fällt zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden, sollten wir uns außerdem gut überlegen, ob Realismus als Idee den gesellschaftlichen Stellenwert einnehmen sollte, den er gegenwärtig hat. Eigentlich müssten wir ja wissen, dass Atombomben nicht die Lösung sind wie im Action-Film, dass Liebe nicht funktioniert wie in Disney-Filmen und dass Scripted Reality nicht die Lebensrealität unserer Nachbarn widerspiegelt. Aber wissen wir es wirklich? Vielleicht können wir den toxischen Realismus in unserer Kultur irgendwann gemeinsam überwinden und zu starken filmischen Geschichten finden, die uns alle vereinen.

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